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Der Weltfrauentag ist mir zu krass.

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Wo ist Boris Blocksberg? Wer war die Mutter von Pippi Langstrumpf? Wurde das Verfahren gegen Colonell Jessep eigentlich jemals eröffnet, nachdem er den Code Red befohlen hatte und wurde das A-Team jemals besiegt? –

 

Diese wichtigen Fragen sind eine kleine Auswahl derer, die ich mir regelmäßig vor dem Einschlafen stelle. Ich zwinge mich dann dazu, mein Handy nicht in Hand zu nehmen um „kurz“ zu recherchieren und natürlich klappt das nicht. Gegen 00:25 Uhr und drei sachfremde YouTube Videos über Mitesser-Entfernung oder Tortendekoration später, ziehe ich ernüchtert das Fazit: „Egal. Nimm es hin. Manche Fragen haben keine Antwort. Schlafe nun, Gehirn!“

 

Eine einzige, ganz wesentliche Frage aber, der Umgang mit ihr und die möglichen Antworten darauf, bringt mich nicht nur um den Schlaf, sondern treibt mich Tag für Tag neu an. Sie war, wenn ich wirklich an die Wurzel gehe, mein Ur-Grund Rechtswissenschaften zu studieren, meinen Schwerpunkt im Arbeitsrecht zu wählen, hunderte Stunden zu recherchieren, Frauen und Männer zu beraten und manchmal vor Gericht zu ziehen. Sie lies mich vielversprechende Dates abbrechen, Freundschaften oder Beziehungen beenden oder sie eingehen. Die Frage öffnete meinen Horizont für so viele Facetten der Vielfalt und der Sichtweisen und ich habe mehr als einmal meine Meinung geändert. Sie motivierte mich dazu ein Buch und das halbe Internet vollzuschreiben, mich auf Podien und Debatten einzulassen, Gesicht zu zeigen und sogar die anonymen Comicprofilbild-Aggros auf Twitter jeden Tag neu zu ertragen.

 

Die Frage lautet: „Wie gehen wir eigentlich mit Frauen um?“

 

Es gibt aber Tage, da verweigere ich. Wie so ein Hund auf dem Weg zum jährlichen Veterinärbesuch. „Nein, isch möschte nischt!“ dachte ich heute Morgen, als ich meine übliche Klick-Runde durch Social Media drehte, denn heute ist #Weltfrauentag. Mir wird nämlich schwindelig und fast übel, wenn ich all die Beiträge lese, die an diesem Tag so geballt gepostet und gestreamed werden. All die Zahlen, Daten, Fakten, Meinungen, Bekenntnisse, Zitate, Werbespots und Kampagnen, die ich ja im Grunde täglich seit vielen Jahren konsumiere, recherchiere und debattiere, erschlagen mich komplett und sie machen mich in ihrer Wucht tatsächlich traurig. Dieser Tag entkräftet mich. Diese Masse macht mich seltsam wütend, sie zieht mir den Zahn und erlahmt meine Flügel. Sie macht, dass ich das Handy weglege und auch das jeweilige Buch, das ich zu diesen Themen gerade lese und denke: „Fuck it. Egal. Nimm es hin. Backe Muffins und sei endlich dankbar und glücklich. Nimm Deine Kinder in den Arm, genieße diese Zeit, die auf diesen ganzen Mutti-Tassen angemahnt wird. Diese gehypte Zeit “die nicht wiederkommt“ und füge Dich. Enough is Enough. Du bist gesund. Deine Kinder auch. Du bist nicht arm. Ab jetzt jede*r für sich. Ich bin raus. Ich ertrage es nicht mehr.“

 

So ist es jedes Jahr auf’s Neue an diesem #Weltfrauentag.

 

Und morgen ist wieder alles ganz anders. Morgen früh wird es wieder dieser Tag gewesen sein, aus dem ich neue Kraft, Motivation und Erkenntnisse ziehe. Denn ein Kalenderspruch prangt auf dem Sperrbildschirm meines Telefons: „Wir leben den Traum unserer Vorfahren.“ Diesen Satz habe ich für mich abgleitet aus dem Gedicht „Still I Rise“ von Maya Angelou, die darin schrieb:  “Bringing the gifts my ancestors gave, I am the dream and the hope of the slave.“

 

Viel Pathos, I know. Aber viel Pathos ist aus meiner Sicht trotzdem besser und wirkungsvoller als sachliche Ignoranz, als Bekenntnisse bei gleichzeitiger Verhaltensstarre, als allgegenwärtiger Sexismus als Humor getarnt und als dieser widerliche, als Patriotismus verkaufte Rassismus wohin man schaut. Wenn man hinschaut. Wenn man sich traut. Alle Rechte, alle guten Umstände, die wir heute selbstverständlich zur Verfügung haben, sind nichts anderes als das Ergebnis der Anstrengungen, Diskussionen und Grabenkämpfe derjenigen, die sich in all den Jahrhunderten vor uns eine bessere, eine gerechtere Welt wünschten. Männer und Frauen. Die bestimmte Lebensumstände, Rechte oder Werte als ihre Utopie formulierten, die nun heute unsere Realität sind. Jede einzelne Generation von Eltern träumte davon, dass es ihre Kinder eines Tages besser haben mögen, als sie selbst. Wir sind diese Kinder und Kindeskinder.

 

Deswegen ist dieser „Früher war es doch viel Schlimmer“ Hinweis als Reaktion auf heutige Forderungen und Debatten rund um Frauenrechte im Grunde die Zeit nicht wert, die man damit verbringt, energisch mit den Augen zu rollen. Das in Bezug auf eine gleichberechtigte Gesellschaft früher alles schlechter war, ist schlicht und einfach eine weitgehend historische Konstante, mit ein paar Backlashes, mehr nicht. Das nennt man Weiterentwicklung. Und die hörte nicht auf. Deswegen ist aber auch im Jahr 2020 keinesfalls „eine Gleichberechtigung doch längst erreicht“. Egal in welchem Jahrzehnt man es proklamiert, es wird dadurch nicht wahrhaftiger. Das identische Narrativ wurde 1920 und 1820 nämlich auch schon voller Überzeugung bemüht und mit genau denselben argumentativen Nebelkerzen angereichert. „Die Forderungen damals waren aber auch was ganz Anderes! Das war wirklich ungerecht. Aber das, was wir heute diskutieren, das geht doch ernsthaft zu weit? Das würde nämlich eigentlich zu einer Bevorzugung von Frauen führen und zu einer Benachteiligung aller Anderen und nicht zu gleichen Rechten.“ schallt es heute noch allerorten und ich frage mich, wie historisch blind man eigentlich sein muss, damit einem das nicht peinlich ist?  Das hörte doch jede einzelne Generation unserer Vorfahren rauf und runter. In 225 Sprachen. All around the World! Seit Jahrtausenden.

 

Natürlich haben die damals noch keine Quoten in Parteien oder Vorständen diskutiert oder darauf aufmerksam gemacht, dass „Frauenberufe“ flächendeckend schlechter bezahlt sind, Carearbeit unbezahlt, praktisch keine Väter in Teilzeit arbeiten oder dass das Ehegattensplitting für notwendige Strukturänderungen vielleicht echt nicht gut ist! Aber doch nur, weil sie sich erstmal darum kümmern mussten, dass man Frauen nicht ihr Geld wegnimmt und es dem Vermögen des Ehemannes zurechnete, wenn sie heirateten oder dass sie überhaupt berufstätig sein durften. Lehrerinnen wurden bis vor genau 100 Jahren aus dem Beamtenstatus entlassen, wenn sie heirateten. Das hieß Lehrerinnenzölibat. (Lehrer nicht mitgemeint.) Crazy Times – aber das war eine wirklich stattfindende Diskussion und ein Zustand, der diffizil und wirklich sachlich verteidigt wurde, bevor man ihn 1919 kippte. Von Männern ebenso wie von Frauen. Nun, ich habe heute auf LinkedIn gelernt, dass Mütter übrigens ihr Aufsichtsratsmandat niederlegen und den Vorstand einer AG verlassen müssen, wenn sie ein Baby bekommen. Eine „Ruhepause“ für diese wenigen Wochen, analog zum Mutterschutz für Angestellte, ein Ruhen des Mandats zum Beispiel, scheint gesetzlich nicht vorgesehen und sie haften für die Beschlüsse, die bei ihrem Fernbleiben getroffen werden. Das mag wie Turnen am Hochreck wirken und macht sowas wirklich für die Verkäuferin an der Kasse einen Unterschied? Ich glaube schon, denn die Perspektiven im Vorstand oder im Aufsichtsrat oder in einem politischen Mandat ist der Ort, an dem die Musik für sehr viele Menschen letztlich spielt und sich auf Arbeitsbedingungen auswirkt. Vielfalt bedeutet auch Vielfalt der Perspektiven. 

 

Diese Repliken rund um „Jetzt ist aber langsam mal gut“ sind in Wahrheit lahme Dupliken jeder einzelnen Debatte der vergangenen Jahrhunderte und ein*e jede*r, die sie heute vorbringt reiht sich in diese seltsame Gruppe derer ein, über die man sich 10, 30 oder 100 Jahre später verwundert die Augen reibt und nicht fassen kann, dass es wirklich Leute gab, die Frauen in Hosen im Parlament für eine personifizierte Beleidigung des hohen Hauses hielten (1970). Die fanden, dass Nachtarbeit für Frauen verboten bleiben sollte (1992), Vergewaltigung in der Ehe kein Verbrechen (1997), Frauen bei der Bundeswehr nichts zu suchen haben (2001) oder die Tour de France nun mal ein Männer-Radwettbewerb bleiben sollte (heute). Willst Du wirklich zu dieser Gruppe gehören, Martinkatrin-Jonasannabelle, wenn Du vor der Feminisierung der Justiz warnst, weil dort in den letzten Jahren mehr junge Richterinnen aufgenommen werden, als junge Richter und die ja viel öfter in Elternzeit gehen? Ist das wirklich die Schraube, an der Du drehen willst, oder wäre es vielmehr die Struktur rund um die Geschlechterverteilungen bei der Kinderaufzucht? Wenn Du findest, dass Frauen bereits genug Rechte hätten, als wäre es irgendwie denkbar, dass Frauen zu viele Rechte haben? Wenn Du sagst, es werde bereits genug für Frauen getan. Eigentlich bereits Zuviel, wenn Du ehrlich seist. Es ginge ja nur noch um Frauen überall. #Metoo nervt Dich eigentlich ein bißchen, Frauen seien ja keine Opfer und müssten sich einfach mal selbst mehr zutrauen. Sie müssten doch einfach mal „JA“ sagen und sich endlich mal beherzt bewerben, auf all diese Jobs, die sie quasi reibungslos nach oben durchreichen? Dann wird das doch von selbst, findest Du. Wenn Du sagst, es sei alles einfach nur eine Frage der Zeit oder zumindest der persönlichen Einstellung und man müsse Frauen doch nichts schenken, was sie nicht verdienen, denn sie seien bereits selbst groß genug. Das sei doch in Wahrheit tatsächlich ziemlich un-feministisch. Ich finde, dass Du Dir hier eigentlich nur selbst ein wenig zu sehr auf die Schultern klopfst, vielleicht weil Du selbst erfolgreich oder zufrieden oder zumindest nicht arm bist und Dir vielleicht den Applaus derer erhoffst, die von den Strukturen profitieren, die Du damit unterstützt.

 

Die Strukturen gibt es nicht mehr? Doch. Leider. Mit negativen Tendenzen sogar. Nach einer brandaktuellen Studie der Vereinten Nationen in 75 Ländern  sind die Hälfte der befragten Menschen – Männer und Frauen- weltweit davon überzeugt, dass Männer bessere politische Führungskräfte sind, 40 Prozent halten Männer für bessere Firmenchefs und nahezu ein Drittel der befragten Personen findet, dass es in bestimmten Fällen in Ordnung gehen kann, wenn ein Mann seine Frau schlägt. That’s still what we’re dealing with here. Und das macht nicht vor unserem Vorgarten halt, nur weil denken, dass wir persönlich so nicht denken, wie andere denken.

 

„Ich denke das aber gar nicht!“ ist nicht genug getan. Das ist zu wenig gedacht um sich zu exkulpieren. Das reicht nicht um sich wieder in Ruhe den Fragen rund um das mysteriöse Verschwinden von Boris Blocksberg zuzuwenden. Weil auch Jungs und Männern Schreckliches passiert, weil Frauen nun mal öfter in Teilzeit arbeiten, weil Männer früher sterben, weil alle Frauen die Du kennst gar keine Führungskraft werden möchten, weil Deine Chefin eine Elternzeit für Väter nicht unterstützt und weil es keinen KiTa Platz gab, als Dein Kind drei Jahre alt war. Das stimmt bestimmt, dann engagiere Dich dafür. Dann wirst Du auf Deinem Weg in den Kampf um bessere Verhältnisse nicht daran vorbeikommen, dass es seit Jahrhunderten die identischen Strukturen sind, über die wir als Gesellschaft stolpern und um die es an jedem Weltfrauentag geht. Nur weil das Loch im Boot ausnahmsweise mal nicht auf Deiner Seite ist, bist Du trotzdem mit Deiner Schimmweste nicht sicher. Egal ob Mann oder Frau oder Divers oder Trans oder keins davon.

 

Nimm andere um Dich herum an die Hand in den Bereichen, auf die Du Einfluss hast. Du hast keine Führungspositionen zu vergeben? Fein. Aber Du kannst trotzdem führen. Du kannst um andere Arbeitszeiten kämpfen, die Zeit für Familie und Freizeit für beide Eltern ermöglicht. Das geht einfach nicht? Dann kannst Deine Partnerin finanziell so absichern, dass sie im Falle einer Trennung nicht schlechter dastünde, als Du, wenn sie die Carearbeit übernimmt. Das ist Liebe. Du kannst die Kinder aus dem Streit herauslassen. In den meisten Fällen lieben und brauchen sie beide Eltern. Kümmere und sorge Dich um Deine Kinder als wären sie wahrlich Deine eigenen und lästere nicht über den Kollegen, weil er in Teilzeit arbeitet oder die Schnalle aus der Buchhaltung, die doch nur schwanger geworden sei, um einer Kündigung zu entgehen. Schreite ein, wenn Deine Kumpels im Stadion „Du Hure“ brüllen und überlege Dir gut, für wen es wirklich gefährlich ist, alleine Aufzug zu fahren oder sich zu betrinken, wenn Du Dich angegriffen fühlst. Oder Du selbst immer sicher nach Hause kamst. Trage nicht nur das „I’m a Feminist-T-Shirt“ sondern gehe da ran, wo es auch Dir wehtut. Wo auch Du ein Privileg aufgibst, wo auch Du einen Streit riskieren musst. Zieh andere Frauen und Männer mit. Vertraue. Trust the People.

 

Es gibt so Vieles, was bereits sehr gut läuft. Ich bin jeden Tag dankbar dafür. Aber es gibt noch mehr als genug, was schlecht läuft, auch wenn alles früher oder an anderen Orten der Welt noch schlechter ist. Arbeite daran es besser zu machen oder blockiere es wenigstens nicht, wenn andere es versuchen. Höre zu, wenn Du nichts sagen willst oder kannst.

 

 

Und wenn mich jemand fragt, in welchem Zeit ich gerne gelebt hätte, dann möchte ich immer sagen können: Morgen. Denn ich glaube unerschütterlich an das Mögliche. Für alle Geschlechter. An diesem Weltfrauentag und erst Recht morgen früh. 


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